Lydia

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Lydia das Schaf stand auf einer Weide, wie es bei Schafen so üblich war.
 Aber während die anderen Schafe seelenruhig das saftige Gras knabberten, dachte Lydia nach. Ganz angestrengt dachte sie nach, so dass sie schon leicht schielte. Eines der Lämmer kam zu ihr und schaute ihr beim Denken zu. Es dauerte einige Minuten, bis Lydia das kleine Lamm schließlich wahrnahm. Leider hörte sie dadurch auf zu schielen und das Lamm verlor das Interesse, Lydia schaute ihm in Gedanken vertieft nach, wie es auf seinen dünnen Beinchen zu seiner Mutter zurücklief. Da kam Lydia eine Idee. Sie drehte sich um, ging über die Weide zu der Lücke im Zaum hinter dem Brombeerbusch, die der Bauer noch nicht entdeckt hatte, und schlüpfte hindurch.
Da stand sie nun auf dem Feldweg direkt hinter dem Zaun und musste noch einmal ganz scharf nachdenken, in welcher Richtung das Dorf lag. Dann trabte sie los.


Sie folgte dem kurvigen Weg durch sanfte, grüne Hügel, bis sie schließlich an das Ortsschild kam. Entschlossen ging sie weiter. Als erstes kam sie an der Dorfkneipe vorbei, aber sie hatte gerade keine Lust auf ein Bier. Dann kam der Bäcker mit den hübschen Backwaren im Schaufenster, aber von dem Zeug bekam sie Bauchschmerzen. Ein Stück weiter vor einem kleinen Haus standen zwei paar hübsche Gummistiefel. Eines war gelb mit roten Blumen und eines blau mir roten Feuerwehrautos. Lydia schlüpfte mit den Vorderhufen in die gelben und mit den Hinterhufen in die blauen Stiefel. Sie passten ganz wunderbar. Mit leicht schmatzenden Geräuschen an den Hufen ging sie weiter die Straße entlang und kam schließlich auf den Dorfplatz.

Die Leute blieben stehen, tuschelten und zeigten mit den Fingern auf sie. Kinder kamen angerannt und liefen lachend hinter ihr her. Lydia lief zielstrebig auf den Hundefriseur am gegenüberliegenden Ende des Platzes zu und postierte sich vor dem Schaufenster. Die Dorfbewohner standen hinter ihr und es wurde leise getuschelt, während im Laden ein Pudel gerade den letzten Feinschliff bekam. Lydia sah gebannt und sehnsuchtsvoll zu, wie die Friseurin die letzten Schnitte machte und eine rosa Schleife um den schlanken Hals des Hundes band. Schließlich stolzierte der elegante Pudel gefolgt von seinem Frauchen an der Leine aus der Ladentür und über den Dorfplatz nach Hause. Als Lydia sich wieder zum Schaufenster herumdrehte, war eines der Kinder, ein Junge in kurzen Hosen, heftig gestikulierend mit der Friseurin in ein Gespräch vertieft. Ein paar Euro wechselten den Besitzer und der Junge öffnete die Tür und bat Lydia herein.
Das gesamte Dor sah zu, als die überaus geschickte Friseurin Lydia in das glamouröseste Schaf verwandelte, das das Dorf je gesehen hatte. Es dämmerte schon, als sich eine gestylte Lydia gefolgt von den Dorfbewohnern und so elegant stolzierend wie es eben in Gummistiefeln möglich war, auf den Heimweg machte. Der Junge öffnete ihr das Haupttor und sie stolzierte an ihm vorbei, senkte kurz den Kopf und blieb erst mitten auf die Wiese stehen, um dann wie in Zeitlupe den Kopf zu senken, um genüsslich zu grasen.
Ein Schaf nach dem anderen hob den Blick und ließ die Kinnlade fallen.
Sie umringten Lydia, bombardierten sie mit Fragen und schoben ihre kleinen Lämmer vor, damit diese besser sehen konnten.

Als alle still wurden, erzählte Lydia ihnen haarklein alles von ihrem Ausflug in das Dorf und dem Besuch bei der Friseurin. Gebannt hörten die Schafe zu und stießen ab und zu staunende und begeisterte Geräusche aus. Lydia erwies sich als eine ausgesprochen gute Geschichtenerzählerin und so kam es, dass sich von da an jeden Abend alle Schafe um Lydia versammelten und ihren tollen Geschichten lauschten, denn da Lydia so gerne nachdachte, hatte sie immer neue Geschichten parat.